Secret Scene ~ N°2

Vager Mondschein erhellte den schmucklosen Bereitschaftsraum in der catanischen Agency. Lee hatte ganz vergessen, wie unbequem die Stockbetten hier waren. Eine Renovierung wäre schon vor Jahren angebracht gewesen, doch bei Budget-Entscheidungen legte die Behörde eben eher weniger wert auf kuschelige Matratzen.

  Aktuell war Lee sogar froh darüber, denn das unangenehme Drücken ausgedienter Matratzenfedern in seinem Rücken half ihm wach zu bleiben. Würde er die Augen schließen, hätte ihn die bleierne Müdigkeit sicher schnell überrollt. Und das, obwohl seine Gedanken dauerhaft um die aufwühlende Frage kreisten, wo Samira steckte.

  Die Rolecháin konnten Kontakt zu ihr herstellen, erhielten allerdings keine Antwort. Demnach war Samy bewusstlos. Aber sie lebte. Noch ...

  Im Grunde gab es bloß zwei Möglichkeiten für ihr spurloses Verschwinden. Entweder der rote Orden hatte sie entführt oder sie war immer noch auf dem Ätna. Darüber, welche der beiden Optionen die bessere wäre, ließe sich streiten.

  Welche Höllenqualen Joe gerade durchleiden musste ... Lee hatte ja schon Schwierigkeiten, seine Sorgen um Samy in ein erträgliches Maß zu zwingen. Wie schlimm musste es dann erst für Joe sein, um das Leben seiner unbestreitbar großen Liebe zu bangen und nichts für sie tun zu können? An seiner Stelle wäre er wahrscheinlich längst ausgetickt. 

  Lee drehte den Kopf und blickte zu Jay hinüber. Sie lag eingerollt im Nebenbett, das Gesicht ihm zugewandt, und schlief tief und fest. Durch das fahle Licht wirkten ihre Züge ungewohnt sanft, fast zerbrechlich. Als würde der Mond freilegen, was sie sonst so vehement hinter einem trotzig erhobenen Kinn und geballten Fäusten versteckte. Verletzlichkeit war hinter dieser kämpferischen Fassade ja zu erwarten gewesen, aber wie weich ihr Kern tatsächlich zu sein schien, überraschte Lee dann doch.

  In einem Punkt hatte er sich bei seiner ersten Einschätzung definitiv geirrt. Ihm war es zu Beginn vorgekommen, als wäre Jay alles außer ihr selbst scheißegal. Dem war keinesfalls so. Wahrscheinlich war sogar das Gegenteil der Fall, denn gerade in den winzigen Momenten, wenn ihre Fassade bröckelte, zeigte sie ein enormes Maß an Empathie. Außerdem hatte sie zweifellos den Drang, gegen Ungerechtigkeit vorzugehen und sich für andere einzusetzen, allerdings brachte sie diesen Kampfgeist nicht nach außen. Zumindest nicht auf effiziente Art und Weise.

  Colin sprach zwar von stetigen Fortschritten während ihres Trainings, doch Lee befürchtete schon die ganze Zeit, dass Jays Elementarmagie schneller heranwuchs als sie es tat. Sie hatte ihre Emotionen nicht im Griff und damit in Extremsituationen auch keine Kontrolle über das Orinion. Wozu das führen konnte, hatte man heute bei dem Erdbeben auf dem Ätna gesehen.

  Das einzig Gute an den Geschehnissen war, dass Jay scheinbar endlich begriffen hatte, wie dringend sie sich unter Kontrolle bekommen musste. Er wünschte nur, es hätte nicht gleich einen solchen Schrecken gebraucht, denn aktuell hatte sie Angst vor ihrer Elementarmagie und das war eine genauso schlechte Voraussetzung für eine fähige Trägerin wie ihre Aufgabe nicht ernst zu nehmen.

  Tat sie das denn inzwischen? Ihre Aufgabe ernst nehmen?

  Lee war sich da nicht so sicher. Wobei er eher vermutete, dass sie nur noch nicht gänzlich erfasst hatte, welch allentscheidende Rolle sie im Kampf gegen die Dunkelheit spielte. Interessanterweise war es gar nicht so schlecht, wenn sie sich Stück für Stück an diese Erkenntnis herantastete, anstatt sie auf einen Schlag zu verinnerlichen. Denn unter der Last einer solchen Verantwortung waren schon ganz andere zerbrochen. Oder schlimmer – in einen Größenwahn verfallen.

  Er betrachtete ausführlich ihre im Mondlicht so zart wirkenden Gesichtszüge und in diesem Moment konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, dass diese junge Frau auch nur einen winzigen Hauch von Machtgier hegen könnte. Doch wie sollte er sich da sicher sein, wenn sich Danu Höchstselbst bekanntlich bei dem ein oder anderen Träger in der Vergangenheit geirrt hatte? Jay gierte vielleicht nicht nach Macht, aber ihr tiefsitzender Groll gegen Regeln und Autoritäten waren genügend Grund zur Sorge. Eine Trägerin, die selbst mit bester Absicht ihr eigenes Ding durchzog und dabei über jegliche Grenzen schritt, stellte definitiv eine Bedrohung dar. Zumal auf das Überschreiten einer Grenze, meist bald der nächste Schritt folgte und irgendwann war es dann doch nicht mehr weit bis zum Größenwahn.

  Ihre Augenlider flatterten. Scheinbar wechselte sie vom Tiefschlaf in eine Traumphase über. An sich kein Grund zur Sorge, doch Lee beobachtete, wie sie zunehmend unruhig wurde. Ihre Hände ballten sich zu verkrampften Fäusten und ihr Atem beschleunigte sich. Sah nach einem ziemlichen Albtraum aus. Vielleicht sollte er sie besser aufwecken, bevor sich ihre Kräfte tatsächlich wieder verselbstständigten. Darum war er schließlich hier. Weil er ihr versprochen hatte, auf sie aufzupassen, damit ... Ah ja.

  Jay fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch und krachte ungebremst gegen den Lattenrost des oberen Betts. Lee sprang ebenfalls auf, um das Licht mittels Bewegungsmelder zu aktivieren. Blinzelnd rieb Jay sich den Kopf und schaute sich hektisch um.

  »Alles gut«, sagte er beruhigend. »Du hast nur geträumt.«

  »Nein!« Sie strampelte sich die Decke von den Beinen und krabbelte etwas ungelenk aus dem Bett. »Samira hat mir eine Botschaft geschickt. Ich weiß, wo sie ist!«

  »Jay, das war ein Traum.«

  »Sie hat mir gezeigt, wo sie gefangen gehalten wird!«

  Tja, schön wär´s. Da konnte er ihre Aufregung gut verstehen. Er seufzte schwer. »Hör mal, das ist unmöglich ...«

  »Via Castida, Nummer 129«, rief sie. »Eine alte Fabrik, die irgendwas mit Fischen zu tun hat.«

  Was? Wie kam sie im Traum ausgerechnet auf die ehemalige Konservenfabrik?

  Lee musterte sie irritiert. »Warst du früher schon einmal in Catania?«

  »Noch nie!« Sie gestikulierte wild mit den Händen. »Ich sag doch, dass ich die Informationen von Samira hab. Los! Wir müssen sofort da hinfahren!«

  Jay preschte umgehend Richtung Tür, obwohl sie noch nicht mal Schuhe anhatte. Hastig versperrte Lee ihr den Weg. »Warte!« Er aktivierte den Funkkanal zur Zentrale und sprach in sein Armband: »Captain Aherra. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«

 »Nein, Captain, tut mir leid. Ihre Agentin ist zwar nach wie vor auf Empfang, doch wir können keine Kommunikation herstellen. Dabei funken wir alle dreißig Sekunden zu ihr durch.«

  »Verstanden.« Er ließ seinen Arm sinken und sah Jay schweigend an. 

  Sie war total aufgewühlt, was durch ihr zerzaustes Haar wunderbar untermalt wurde. Dass sie aktuell nicht klar denken konnte, war offenkundig und so wild, wie sie vor ihm herumfuchtelte, ließ sie ihm ebenfalls keinen Raum, seine Gedanken zu sortieren.

  »Verdammt!«, schrie sie ihn an. »Ich weiß doch auch nicht, wie sie es gemacht hat. Vielleicht hat sie genau in einer Pause der Funker eine Verbindung zu mir aufgemacht. Oder vielleicht sind diese Funker in Wahrheit die Verräter und behaupten nur, sie zu suchen, während sie sich insgeheim ins Fäustchen lachen ...«

  Lee unterbrach sie harsch. »Dir ist hoffentlich bewusst, wie lächerlich diese Theorie ist.«

  »Du bist lächerlich! Wieso glaubst du mir nicht einfach?«

  »Weil es schlichtweg nicht möglich ist! Du bist keine Funkerin!«

  »Danke für den Hinweis. Denkst du, ich bin bescheuert? Es könnte doch auch am Orinion liegen. Was weiß denn ich? Ich weiß nur, dass wir auf der Stelle zu dieser Fabrik fahren müssen!«

  Er rieb sich übers Gesicht und stöhnte dabei genervt, denn er wusste aktuell nur, dass er nicht vernünftig nachdenken konnte, solange Jay vor ihm herum tobte wie eine Durchgeknallte. Es juckte ihn arg in den Fingern, sie an den Schultern zu packen und zu schütteln, bis sich mal wieder einkriegte.

  Okay. Stopp. Er brauchte unbedingt einen kleinen Moment Ruhe, bevor hier noch irgendwas eskalierte. Eilig schlüpfte er in seine Stiefel und deutete eindringlich auf Jay. »Setz dich und warte hier auf mich!«

  »Wo gehst du hin?«

  »Kaffe holen«, knurrte er und verließ das Bereitschaftszimmer.

  Im Flur rubbelte er sich erneut heftig übers Gesicht. Da hatte er gerade noch dieses zarte, schlafende Wesen betrachtet und schon wurde sie wieder zu diesem aufbrausenden Ungetüm, mit dem er überhaupt nicht umzugehen wusste. Und dass er nicht wusste, wie er mit seinem Gegenüber umgehen musste, kam wahrlich nicht oft vor. Eigentlich sogar nie. Wie auch immer.

  Bis zur kleinen Mannschaftsküche hatte Lee sich einigermaßen gesammelt. Während er zwei Tassen unter die Kaffeemaschine stellte und den Knopf drückte, ging er im Geiste die Fakten durch, die für oder gegen einen lebhaften Traum sprachen. Weit kam er bei seinen Überlegungen nicht, weil es da in seinem Armband knackte und das aufbrausende Ungetüm ihn gleich wieder über Funk aus seiner neuerlangten Ruhe riss.

  »Hallo? Joe? Colin? Könnt ihr mich hören?«

  Lee gab einen grollenden Laut von sich, bevor er antwortete: »Nein. Was soll das überhaupt werden?«

  »Sie würden mir wenigstens zuhören, anstatt Kaffee zu saufen!«

  Ernsthaft?

  Er holte bereits Luft, um ihr wutschnaubend zu erklären, dass er den Koffeinschub ja nur brauchte, weil er ihr zugehört hatte. Was ihr klar werden könnte, wenn sie mal ihr verfluchtes Hirn einschalten würde!

  Nur mit Mühe schluckte er seine bösen Worte hinunter, sagte stattdessen lieber nichts und massierte sich seine Stirn, hinter der es dumpf pochte. Zudem waren seine Schultern furchtbar verspannt. Egal.

  Also, nochmal zurück zu diesem Traum. Eine telepathische Verbindung zwischen Samy und Jay war definitiv ausgeschlossen. Orinion hin oder her. Außerdem würde Samy sich definitiv bei der Agency melden, sobald sie senden konnte. Dazu kam die Frage, was sie in dieser Fabrik verloren haben sollte. Demnach sprach so einiges dafür, dass es sich tatsächlich bloß um einen realen Traum handelte.

  Doch woher kam die Adresse der alten Konservenfabrik?

  Vergrübelt nahm Lee die beiden gefüllten Tassen und ging zurück zum Bereitschaftszimmer.

  Der kürzeste Weg von der Talstation des Ätna bis hier her führte eigentlich nicht über die Via Castida, theoretisch könnte Colin allerdings versehentlich eine entsprechende Route durch Catania genommen haben, als er Jay hier her brachte. Es könnte also sein, dass Jay das durchaus prägnante Gebäude in ihrem Schockzustand während der Fahrt nicht wirklich wahrgenommen hatte, ihr Unterbewusstsein hingegen schon. Und im Traum war es ihr nun erneut untergekommen.

  Lee drückte umständlich mit dem Ellbogen den Türgriff auf und balancierte die beiden vollen Tassen über die Schwelle. Er sollte wohl Colin wecken, um ihn zu ...

  Das durfte doch echt nicht wahr sein!

  Jay war weg.

  Fluchend stellte er die Tassen ab und funkte sie an. »Wo bist du?« Er wartete kurz, bevor er ungehalten bellte: »Jay, antworte gefälligst! Verdammt noch mal!«

  Sie antwortete natürlich nicht.

  Bebend vor Wut eilte Lee aufs Geratewohl zu den Fahrstühlen und rief unterwegs das Tracking ihres Armbands auf. Tiefgarage. Das hatte er irgendwie geahnt. Was genau sie vorhatte, war dabei eine interessante Frage, auf die sie selbst vermutlich keine Antwort hatte. Weil sie mal wieder bewies, dass sie verflucht noch mal nicht fähig war, erst nachzudenken und dann zu handeln. Außerdem pfiff sie offenkundig weiterhin auf so ziemlich alles, was er sagte. Er hätte echt gedacht, sie würde ihn langsam akzeptieren und endlich kapieren, dass sie sich mit ihrer kopflosen Art bloß in Gefahr brachte. Sich und andere.

  Der Aufzug entließ ihn im Untergeschoss und Lee stürmte die Tiefgarage als wolle er eine Festnahme durchführen. Schwer zu finden war seine Zielperson nicht. Sie saß im vordersten Wagen, bei dem die Warnblinkanlage an war. Warum auch immer.

  Er hielt direkt auf die Motorhaube zu und blieb davor wie angewurzelt stehen, sobald er Jay im Detail erkennen konnte. Sie saß zusammengesackt auf dem Fahrersitz, die Stirn resigniert gegen das Lenkrad gelehnt. Und sie weinte.

  Lee verschränkte die Arme und knirschte mit den Zähnen. Ein Großteil seiner Wut war angesichts ihrer Verzweiflung verpufft. Sie wollte Samira unbedingt helfen, wusste aber nicht wie. Er kannte dieses vernichtende Gefühl der Ohnmacht sehr gut aus eigener Erfahrung. Darum ahnte er ja auch ungefähr, welche Hölle Joe aktuell durchmachte und auch, dass er selbst ganz bestimmt nicht davor gefeit war, in einer solchen Situation den Verstand zu verlieren.

  Ja, er konnte ausnahmsweise mal gut nachvollziehen, warum Jay tat, was sie eben tat. Dabei änderte sein Verständnis allerdings nichts an dem Fakt, dass sie sich ihr aktuelles Dilemma hätte sparen können, wenn sie ihm wenigstens die Möglichkeit gegeben hätte, diese Sache gemeinsam anzugehen und zu analysieren. So wie man es eben für gewöhnlich in einem Team machte.

  Vor einer Weile hatte sie gemeint, er würde sie nicht als vollwertiges Teammitglied akzeptieren. Aus seiner Sicht bestätigte sich gerade, dass sie sich selbst noch nicht als Teil des Teams ansah. Beziehungsweise, dass sie lieber allein lospreschte, anstatt sich auch nur ein winziges bisschen auf andere zu verlassen.

  Jay hob den Kopf und schaute ihn erschrocken an, bevor sie sich hastig die Tränen von den Wangen wischte. Sie schämte sich für ihre Unfähigkeit und zugleich konnte er nun auch die Verzweiflung so unverhohlen in ihrem Gesicht erkennen, dass er sie regelrecht in seiner eigenen Brust spüren konnte.

  O Mann ...

  Na, schön. Er glaubte zwar immer noch nicht, dass an dieser Traumsache etwas dran war, doch jetzt waren sie sowieso schon hier, also konnten sie auch gleich einen kleinen Ausflug machen. Hoffentlich war das für Jay Beweis genug, dass er ihr immer zuhörte und vor allen Dingen auf ihrer Seite war.

  Er gab sich einen Ruck und ging zur Fahrertür, um sie zu öffnen. »Steig aus.«

  Mit hängendem Kopf glitt Jay schweigend vom Fahrersitz und blieb einen Schritt neben dem Wagen stehen. Sie bemerkte nicht, dass er sich nun hinters Steuer setzte. So ziemlich jedes Fach im Frontbereich war geöffnet, weil sie vermutlich nach einem Schlüssel gesucht hatte. Die Zündung hatte sie zumindest anbekommen, wie das dudelnde Radio verriet. Den Motor konnte sie gar nicht starten, da es dazu einen registrierten Fingerabdruck brauchte, den der Start/Stopp-Knopf bei Betätigung scannte. So wie jetzt, als Lee mit dem Zeigefinger drauf tippte, nachdem er die Fahrertür zugezogen hatte.

  Perplex starrte Jay ihn durch das Fahrerfenster an. Er ließ die Scheibe runter und winkte ungeduldig. »Los, steig ein!«

  »Was?«, schniefte sie.

  »Du hast schon richtig gehört. Steig ein, bevor ich es mir anders überlege.«

  Sie stolperte augenblicklich um den Wagen herum und hastete sich regelrecht auf den Beifahrersitz. Lee fuhr langsam aus der Parklücke, blieb jedoch mit seiner Aufmerksamkeit zunächst bei Jay. Sie mühte sich krampfhaft um Haltung, versuchte sich dabei unauffällig von den letzten Tränenresten zu befreien.

  »Bist du jemals Auto gefahren?«, fragte er sie.

  »Nein.«

  »Aha. Und wie wolltest du ohne Erlaubnis durch die Sicherheitsschleuse kommen?«

  Sie zog geräuschvoll die Nase hoch. »Welche Sicherheitsschleuse?«

  »Unglaublich ...«, murmelte er kopfschüttelnd.

  Kurz darauf hatten sie das geschlossene Rolltor der Tiefgaragenausfahrt erreicht. Lee wechselte ein paar knappe Worte mit dem Wachposten, der kurz ihre Gesichter mit einem mobilen Scanner erfasste und somit ihr Verlassen des Stützpunkts im System registrierte, bevor sich das Tor knarzend in die Höhe schob. Jay fasste ins Handschuhfach, das noch von vorhin offen stand, und hielt ihm einen zusammengefalteten Stadtplan hin.

  Er lehnte ab. »Ich weiß, wo die alte Konservenfabrik ist.«

  Sie verließen die Garage. Die Stadt befand sich noch im Tiefschlaf. Um vier Uhr morgens ruhte selbst das quirlige Catania. Zumindest in den meisten Vierteln, so wie hier. Die schmalen Straßen zwischen den wunderschönen Altbauten waren leer und alles wirkte friedlich, fast romantisch. Letzteres könnte aber auch an dem kitschigen Song liegen, der gerade im Radio lief.

  Jay wurde merklich mit jedem gefahrenen Meter unruhiger und warf ihm ständig nervöse Blicke zu. Irgendwann fragte sie: »Woher weißt du, wo diese Fabrik ist?«

  »Ich war hier ein ganzes Jahr lang stationiert, bevor ich nach Avalon kam«, antwortete er. »Die Frage ist eher: Woher weißt du von dieser Fabrik?«

  »Ich habe sie gesehen. Ganz deutlich. Es war kein Traum.«

  »Das wird sich zeigen.«

  Eine Weile schwiegen beide. Nur das Radio schmachtete unverändert vor sich hin und Lee bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Jay das Gerät genervt anvisierte, bis sie schließlich die Hand ausstreckte und die Lautstärke runterdrehte.

  »Du stehst wohl nicht auf Schnulzen«, kommentierte er amüsiert.

  »Jammerndes Gejaule? Nein, danke.«

  Tja, das kam jetzt nicht unbedingt überraschend.

  Jay nestelte am Saum ihrer Jacke herum, holte tief Luft und fragte in gezwungen unverbindlichem Ton: »Warum fährst du mit mir zu dieser Fabrik? Also, warum hast du dich umentschieden?«

  Er seufze leise. »Ich hatte noch gar keine Entscheidung getroffen, Jay.«

  »Wie bitte? Das sah aber ganz anders aus.«

  »Weißt du, genau das ist dein Problem.« Er bog nach links ab und überfuhr dabei unbekümmert eine rote Ampel. »Statt erst einmal genau hinzusehen, handelst du einfach, ohne auch nur eine Sekunde lang zu überlegen. In einem Gefecht könnte dich diese überstürzte Art das Leben kosten.«

  »Wie gut, dass ich keine Soldatin bin«, erwiderte sie glatt.

  Okay? Scheinbar war ihr leider noch nicht mal im Ansatz bewusst, welche Rolle sie als Trägerin spielte.

  »Falsch«, entgegnete er ernst. »In dem Moment, als du das Orinion angelegt hast, wurdest du zu einer Soldatin. Und du befindest dich bereits mitten in einem Krieg. Oder worin würdest du die Situation heute auf dem Ätna sonst einordnen?«

  Lee beobachtete ihre Reaktion ganz genau. Etliche Emotionen spiegelten sich in ihrer Miene, doch komplett schlau wurde er daraus auf die Schnelle nicht. Obwohl er langsam bezweifelte, jemals komplett schlau aus ihr werden zu können.

  Die anderen hatten ihm ständig geraten, ihr die Zeit zu geben, sich in der Anderswelt zurechtzufinden und ihr nicht zu viel abzuverlangen. Er fürchtete ja ebenfalls die Gefahr, sie in eine Überforderung zu treiben, aus der heraus nichts Gescheites heranwachsen könnte. Trotzdem erkannte er seltsamerweise genau in diesem Augenblick, dass die Schonzeit enden musste.

  Jay stellte ihn zwar oft vor ein Rätsel, doch in einem Punkt war er sich absolut sicher: Sie war eine Kämpferin mit ungeheurem Potential. Und um dieses Potential bestmöglich zu entfalten, gab es wohl kaum eine bessere Gelegenheit als sie die Grundausbildung zur Agentin antreten zu lassen.

  Ja, das könnte genau das sein, was Jay wirklich brauchte, um über sich selbst hinauszuwachsen. Doch diese Entscheidung konnte Lee nicht alleine treffen. Darüber musste er erst noch mit dem Chief sprechen.

  Gedankenversunken bog er nach links ab und schrak leicht zusammen, weil Jay herausplatzte: »Das ist die Straße! Da! Da vorne ist die Fabrik!«

  Sie wetzte unruhig auf ihrem Sitz herum, während Lee dem Straßenverlauf folgte und den Wagen schließlich am Rand neben dem verrosteten Zaun des heruntergekommenen Werksgeländes abstellte. Das alte Fabrikgebäude ragte unheilvoll in der Düsternis hinter dem vagen Schein der Straßenlaternen auf. Neben dem Eisentor war ein abblätterndes Schild mit Straße und Hausnummer angebracht. Lee wusste, dass dieser Lost Place bei Tageslicht nicht minder eindrucksvoll wirkte, darum blieb er weiterhin bei seiner These, wie es diese Details in Jays Traum geschafft haben könnten. Nebenbei regte sich zwar auch ein kleines bisschen Hoffnung, Samy tatsächlich hier zu finden, aber er hielt es bewusst im Zaum, um die Lage möglichst neutral beurteilen zu können.

  Wobei es wirklich nicht leicht war, sich nicht von Jays Euphorie anstecken zu lassen. Kaum waren sie ausgestiegen, fühlte sie sich bereits von der herunterbaumelnden Kette am Zugangstor in ihrer Vision bestätigt und ihre grünen Augen glühten regelrecht vor Tatendrang. Lee fand diesen Ausdruck auf Anhieb sehr viel beeindruckender als das wütende Lodern, mit dem sie ihn sonst so gern beehrte.

  Ja, wirklich, dieses Glühen hatte echt was an sich. Es war mitreißend, kraftvoll und ... leidenschaftlich? Definitiv. Und Lee fand diese spezielle Mischung ungemein sexy.

  »Willst du nicht lieber Verstärkung anfordern?«

  Er stutzte. Hastig folgte er ihrem Fingerzeig zum Tor und war sehr erleichtert, dass Jay scheinbar nicht bemerkt hatte, wie er sie eben angegafft hatte. Peinlich war das, echt! Außerdem auf sehr vielen Ebenen unangebracht. In der aktuellen Situation sowieso. Was war denn da gerade in ihn gefahren?

  Jetzt reiß dich mal zusammen, Mann!, schalt er sich selbst.

  Also ... Verstärkung anfordern? Nein. Denn ein schneller Blick auf die Kette reichte, um zu erkennen, dass der Einsatz des Bolzenschneiders bereits eine Weile her war. An den groben Enden der aufgezwickten Kettenglieder zeigte sich nämlich der erste Flugrost.

  »Das hat nichts zu bedeuten«, meinte er zu Jay. »Vielleicht haben sich ein paar Kids hier einen Partyraum eingerichtet.«

  Sie musterte ihn mit erhobener Braue. »Du glaubst mir also immer noch nicht.«

  »Nicht wirklich. Aber wenn es dich beruhigt, sehen wir uns eben mal ein wenig hier um«, antwortete er abgelenkt, weil er nebenbei in Kontakt mit den kargen Gräsern getreten war, die sich durch den spröden Asphalt gekämpft hatten.

  Trockenheit und die sizilianische Sonne hatten den Gewächsen arg zugesetzt. Sie waren dabei, sich ins Ruhestadium zurückzuziehen, um aus ihren Samen neu zu wachsen, sobald die Klimabedingungen wieder stimmten. Dementsprechend schwach reagierten sie auf Lee. Die meisten schienen ihn gar nicht mehr wahrzunehmen, doch von ein paar vereinzelten Halmen kam wenigstens ein vages Flüstern.

  Er wollte wissen, ob sich aktuell jemand im Gebäude befand. Die reichlich unbefriedigende Antwort lautete, dass sie nicht darauf geachtet hatten. Es war ganz normal, dass Menschen kamen und gingen. Manchmal blieben sie nur eine Nacht, manchmal länger, und oft wählten sie diesen Eingang und nutzen als Ausgang den an der Rückseite. Es könnte also sein, dass gerade jemand hier war. Oder auch nicht.

  Aha.

  Da in einem leerstehenden innerstädtischen Gebäude selbstverständlich immer ein gewisser Betrieb herrschte, brachte Lee diese Auskunft rein gar nichts. Doch es sei der entkräfteten Vegetation verziehen, dass sie anderes im Sinn hatte, als ihre Aufmerksamkeit auf die Menschen zu richten, deren Verhalten aus ihrer Sicht sowieso meistens kompletter Quatsch war.

  Dicht gefolgt von Jay hielt Lee auf die hölzerne Eingangstür zu und drückte sie sachte nach innen auf. Das an sich leise Quietschen hallte bedrohlich durch die Stille. Er aktivierte die Lampe seines Armbands, ließ den Kegel schnell über den breiten, fensterlosen Gang vor sich schweifen und wandte sich zu Jay um. Sie war am ganzen Leib angespannt, was angesichts der Horrorszenerie durchaus verständlich war. Aber dieses besondere Glühen in ihren Augen blieb unverändert. Nichts würde sie davon abhalten, sich in die gespenstische Finsternis zu stürzen, um nach Samy zu suchen.

  Da erkannte Lee, woher dieser veränderte Ausdruck in ihrem Blick kam. Jay kämpfte nicht wie üblich gegen etwas, sondern für etwas. Das war ein gewaltiger Unterschied und der erschuf direkt einen Ausblick auf die Kriegerin, die sie eines Tages sein könnte. Und die war wirklich verdammt ...

  STOPP!

  Bei Danu, was war denn nur los mit ihm? Er hätte wohl besser doch erst einen Kaffee trinken sollen.

  Lee deutete auf Jays Armband und wies auf den Knopf, mit dem sie die Taschenlampe einschaltete. Sie leuchtete bedeutsam auf die zahlreichen Fußabdrücke, die sich klar in der Staubschicht des Betonbodens abzeichneten und die er vorhin schon wahrgenommen hatte.

  »Könnten von Jugendlichen oder Obdachlosen stammen«, flüsterte er und ging dabei vorwärts. »Vielleicht auch beides.«

  Er folgte den Spuren. Wachsam und konzentriert, doch weiterhin davon ausgehend, dass sie einem schlichten Traum folgten. Denn wie um alles in der Welt hätte Samy eine mentale Verbindung zu Jay herstellen sollen?

  Je tiefer sie den Fußspuren in das Gebäude folgten, desto merkwürdiger kam ihm allerdings vor, dass sie einem einzigen Wegverlauf folgten. Sie kamen an mehreren Abzweigungen und einer breiten Treppe vorbei, doch die zahlreichen Schuhprofile führten ausschließlich in eine einzige Richtung. Soweit zu erkennen, handelte es sich um festes, schweres Schuhwerk. Nicht zwingend, was eine Gruppe Teenager tragen würde, darum konnte er die schon mal ausschließen.

  Die Spuren führten sie in eine ehemalige Fertigungshalle. Fahles Mondlicht fiel durch eine Reihe schmaler Fenster herein und zeichneten zurückgelassene Maschinen und Förderbände als groteske Umrisse in die Düsternis. Der Anblick war gespenstisch, doch es war etwas anderes, das Lee unangenehm im Nacken kribbelte.      Nur was?

  Lee blieb stehen, ließ systematisch seinen Taschenlampenkegel durch die Halle schweifen und flüsterte dabei an Jay gewandt: »Irgendetwas ist hier faul. Lass uns wieder gehen.«

  »Was ist mit Samira?«, wisperte sie.

  »Ich lasse ein Team herkommen. Irgendwie ...«

  Der restliche Satz blieb ihm im Hals stecken, als er es endlich sah. Eine sehr kleine, aber hochmoderne Überwachungskamera klebte halb verborgen unter einem der Förderbänder.

  Ein eiskalter Schauer fuhr Lee durch die Glieder, weil ihm in dieser Sekunde klar wurde, dass er einen gewaltigen Fehler gemacht hatte. Anstatt sich über Jay zu ärgern und sich über ihr Verhalten den Kopf zu zerbrechen, hätte er besser mal ausführlich über etwas anderes nachdenken sollen. Dann wäre ihm auch in den Sinn gekommen, dass diese mysteriöse Traumbotschaft einen völlig anderen Ursprung haben könnte.

  Was war er nur für ein verfluchter Idiot?

  Die Füchsin hatte Jay eine Falle gestellt.

  Und er hatte sie geradewegs hineingeführt ...

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Kommentare: 2
  • #1

    Lea-Marie (Dienstag, 28 November 2023 16:25)

    Abgefahren!!!���
    Bitte mach noch zu Band 3 und 4 eine jeweilige Bonuszene!!!���
    In Lees Gedanken und Gefühl welt einzutauchen ,bringt ihn mir nochmal näher und ich finde es mega interessant zusehen, was Lee damals von Jay Dachte.
    Mich persönlich würde in Band 3 die Szene mit den Luftgeist und Jays Vergangenheit am meisten interessieren, da es meiner Meinung nach die Schlüsselszene zwischen Jay und Lee war!!!����( Lee konnte danach nämlich endlich die Gefühle für Jay zulassen)

  • #2

    Natalia (Montag, 11 Dezember 2023 15:34)

    Vielen Dank erstmal für den Bonus aus der Sicht von Lee lesen zu können. Ich finde es so interessant es mal aus seiner Sicht zu lesen und seine Empfindungen zu erfahren. Ich hoffe immer noch, daß alle Bänder komplett aus seiner Sicht geschrieben werden