Secret Scene ~ N°1


Der hochmoderne Jet von Team 8 pflügte sich durch die grauen Wolkenfetzen des nächtlichen Himmels der Dortwelt. Der Innenraum der Taranis II war in üblichem Nachtbetrieb nur spärlich beleuchtet. Er bot Platz für fünf Mannschaftsmitglieder, doch von den Schalensitzen waren aktuell nur die beiden vorderen belegt.

Lee hatte das Steuer übernommen, justierte die Flughöhe ein wenig nach und schaute zu seinem Teamkollegen Colin hinüber, der schweigend eine Personenakte auf einem gläsernen Tablet studierte. Das Display brachte seine blonden Haare regelrecht zum Gleißen und warf einen Schimmer auf die dunkelblaue Uniform, die für jeden Agenten der Special Forces Pflicht war.

»Und?«, fragte Lee ungeduldig und wischte sich eine schwarze Strähne von der Stirn. »Was steht da?«

»Also, wenn das wirklich die Trägerin ist, hat Danu eine interessante Wahl getroffen«, meinte Colin, weiterhin in die digitale Akte vertieft.

»Die Draío-Messung des Amuletts war eindeutig. Es ist das Orinion, und da es um ihren Hals hängt, muss sie die Trägerin sein.«

»Schon klar. Es ist nur …  na, interessant eben.«

Da Colin nicht vorzuhaben schien, seine Meinung demnächst zu begründen, aktivierte Lee den Autopiloten und schnappte sich sein eigenes Glassboard, um sich die mysteriöse Trägerin selbst anzusehen.

Jessica Winter, 17 Jahre alt. Das Profilbild neben den wichtigsten Personendaten zeigte eine junge Frau mit hellem Teint und dunkelrotem Haar. Ihre Augen hatten einen außergewöhnlichen Grünton. Sie hätte eine Naturschönheit sein können, wäre sie nicht mit pechschwarzem Lidschatten zugespachtelt wie ein Panda. Zudem stierte sie mit einer Miene in die Kamera, die keinen Zweifel offen ließ, dass sie keinen Bock auf dieses Foto hatte. Oder auf sonst irgendwas. Man könnte meinen, das Bild stamme aus einem Verhaftungsprotokoll. Wobei da die meisten noch freundlicher dreinschauten als dieses Mädchen. Müsste Lee seinen ersten Eindruck von ihr mit einem Wort beschreiben, wäre es »störrisch«.

Er scrollte weiter und hob eine Braue. Laut dieser Akte war »störrisch« wohl noch zu harmlos. Gleich drei Jugendstrafen, mehrere Verwarnungen bis hin zum akut drohenden Schulverweis, diverse Beurteilungen von Sozialarbeitern, die von einem Aggressionsbewältigungsproblem sprachen … Da konnte Lee seinem Kollegen bloß recht geben, denn Danus Wahl war definitiv interessant.

Ungläubig überflog er die Einträge und fragte sich, was um alles in der Welt sich die Göttin dabei gedacht hatte. Ein leiser Signalton holte ihn aus seinen Gedanken. Das Navi meldete die baldige Ankunft, darum legte Lee das Glassboard zur Seite, um die Steuerung zu übernehmen. Er rückte sein Headset zurecht und deaktivierte den Autopiloten.

»Und, was meinst du?«, fragte Colin.

»Interessant. Wie du bereits sagtest.«

Colin schnitt eine Grimasse. »O je, das fühlt sich aber gar nicht gut an. Was bereitet dir solche Sorgen? Doch nicht etwa, weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mensch ist?«

Lee antwortete nicht sofort. Manchmal nervte es ihn gewaltig, dass er Colin aufgrund seiner empathischen Begabung nichts verschweigen konnte. Nicht, dass er ein notorischer Lügner wäre, aber es gab eben Dinge, die man lieber für sich behielt.

Er drosselte die Antriebe und ging in Sinkflug über, bevor er sich einen Ruck gab. »Du kennst meine Meinung über die Menschen. Die Vergangenheit hat bewiesen, dass das magische Amulett aus gutem Grund ausschließlich an Tuatha de Dannan vermacht wird. Die Machtgier der Menschen ist einfach viel zu groß.«

»Vielleicht ist sie ja eine Tuatha«, merkte Colin an. »Die Genanalyse steht noch aus.«

»Tja, dann wäre sie aber immer noch ein Bréag. Aufgewachsen in der Dortwelt fernab der Wahrheit, erzogen und somit verunreinigt von unwissenden Menschen. Die bei Jessica offenkundig ganze Arbeit geleistet haben, wenn man sich ihre Vergangenheit so ansieht.«  

»Hm«, machte Colin schlicht. Dabei war deutlich aus dem Laut herauszuhören, dass er Lees Ansicht nicht teilte.

Lee atmete tief durch. » Diese Akte liest sich wie die Ankündigung einer düsteren Prophezeiung. Wir haben die mächtigste Waffe des Planeten, das Orinion, in den Händen einer menschlichen Vollwaise mit Aggressionsproblemen, die uns vor einer unbekannten globalen Bedrohung schützen soll. Da kann man schon mal besorgt sein, findest nicht?«

»Ich finde, es ist zu früh für eine verbindliche Beurteilung. Und damit meine ich Jessica Winter und die Lage im Allgemeinen.«

Colin, diplomatisch und besonnen wie immer. Eigenschaften, die Lee auch manchmal gut gebrauchen könnte. Dass er zum Schwarzsehen neigte, war ihm selbst bewusst, doch generell vertrat er eben den Grundsatz: Vorsicht ist besser als Nachsorge.

Manche sagten Lee einen Kontrollzwang nach. Er selbst sah es viel mehr als seine Pflicht an, stets die Lage mit allen Eventualitäten zu überblicken, um entsprechend darauf reagieren zu können. Seiner Meinung nach war das also kein Kontrollzwang, sondern höchste Effizienz. Und genau die hatte ihm nicht nur die Auszeichnung als jüngsten Captain in der Geschichte der Agency eingebracht, sondern Team 8 auch zur derzeit unangefochten höchsten Aufklärungsquote innerhalb der Special Forces verholfen.

Nicht, dass dies ein Wettbewerb wäre, aber auf diesen Verdienst durfte er ja wohl noch stolz sein.

Da das Schicksal dafür gesorgt hatte, die Trägerin mehr oder weniger in die Arme von Team 8 stolpern zu lassen, war Lee nun ab sofort auch für Jessica Winter zuständig. Eine künftige Zusammenarbeit, die laut dieser Akte nicht zwingend unter guten Sternen stand, aber er beschloss, sich ein gutes Beispiel an Colin zu nehmen und versuchte, seinen ersten Eindruck vorerst beiseitezuschieben.

Colin überprüfte die Navigationsanzeige und aktivierte den Funk. »Klabauterstraße, hier spricht Taranis II. Befinden uns im Landeanflug und erbitten um Zuweisung der Landezone.«

»Taranis II, verbleiben Sie im Tarnmodus. Ich übermittle Koordinaten der freigegebenen Landezone«, antwortete eine weibliche Stimme.

Der Jet durchbrach die Wolkendecke und das glitzernde Lichtermeer einer Großstadt bei Nacht breitete sich unter ihnen aus. Lee manövrierte die Taranis zu einem relativen neuen Büroviertel und schwebte über der breiten Hauptstraße zwischen den Hochhäusern entlang, bis die Skyline von einem komplett aus der Reihe tanzenden Flachdachgebäude unterbrochen wurde.

Inmitten all der modernen Businessbauten wirkte der kleine Laden namens »Mary´s Strickwaren« absolut fehl am Platz. Ein Scheingeschäft, das nur zur Tarnung einer dienstlichen Außenstelle der Agency diente. Die Menschen durften schließlich nichts von dieser Behörde wissen.

Lee war zum ersten Mal hier und »Mary´s Strickwaren« war nur eines von vielen Beispielen, wo er sich fragte, wer sich denn ausgerechnet für diese Tarnung entschieden hatte. Stirnrunzelnd betrachtete er das näherkommende Wollfachgeschäft im Zentrum des Büroviertels. Objektiv betrachtet ging es kaum auffälliger. Die zufällige Laufkundschaft musste sich allerdings in Grenzen halten, sonst hätte die Agency sicher längst einen anderen Laden daraus gemacht.

Die nächtliche Uhrzeit inklusive ausgefeilter Tarntechnologie erlaubte es, die Taranis ungesehen auf dem schicken Vorplatz des benachbarten Büroblocks zu landen. Lee dirigierte den Jet neben den Springbrunnen. Mit sanftem Ruckeln setzte er auf dem Pflaster auf.

Routiniert betätigte Colin einige Kippschalter, während Lee die Antriebe herunterfuhr. Obwohl sie eher selten als Pilot und Co-Pilot fungierten, waren sie ein eingespieltes Team.

»Tarnkuppel aktiv«, sagte Colin. »Öffne Heckrampe.«

»Reaktoren in Stand-by. Backflow läuft. Vergiss ja nicht, die ASR zurückzusetzen, sonst meckert Samy gleich wieder herum.«

Colin schmunzelte. »Das wollen wir nicht riskieren.«

Lee überflog ein letztes Mal die Anzeigen, bevor er das Headset abnahm, den Gurt öffnete und aufstand. Kühle Nachtluft wehte ihm entgegen, als er über die Heckrampe nach draußen ging. Das Büroviertel war wie ausgestorben und es war nahezu gespenstisch still. Lee rückte angespannt seinen Waffengürtel ein wenig zurecht und sah sich analytisch um.

Colin trat neben ihn. »Du erwartest doch wohl keinen Hinterhalt?«

»Eigentlich nicht.« Lee wiegte den Kopf. »Aber bevor die drei Ordensmitglieder, die Jessica angegriffen haben, nicht verhört wurden, können wir nicht sicher sein, wem sie alles von ihrer Sichtung erzählt haben. Weiß der Geier, wie viele machthungrige Wahnsinnige sich bereits die Finger lecken.«

Die beiden überquerten den Vorplatz und wandten sich zum Gehweg. Lee blieb bei seiner Wachsamkeit. Entspannen würde er sich erst wieder, sobald die Trägerin in Avalon war. Im Hauptsitz der Agency würde sie sicherer sein als sonst irgendwo und ihr Schutz hatte aktuell oberste Priorität. Etliche Gefahren schienen sich in den Schatten zusammenzubrauen und Lee machte es schwer zu schaffen, dass er noch keine davon sehen konnte. Aber spüren konnte er sie umso deutlicher. Wie ein Gewitter, schon bevor sich der Himmel verdüsterte.

Nach einem kurzen Stück durch mageren Laternenschein, fiel bereits die Festtagsbeleuchtung aus den Schaufenstern des Strickwarenladens auf den Asphalt.

»Dass das Orinion bereits gesehen wurde, ist wirklich nicht gut«, sagte Colin. »Allerdings halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass die Information innerhalb des roten Ordens bleibt. Immerhin wollen sie das Amulett bestimmt für sich haben.«

»Das stimmt. Zum Glück war es bloß diese Organisation. Mit ein paar fanatischen Chaoten werden wir locker fertig. Da gibt es eine Reihe anderer Gruppierungen, die mir mehr Kopfzerbrechen bereiten. Wobei wir uns besser auf die Frage konzentrieren sollten, welche Bedrohung das Orinion auf den Plan gerufen hat, denn von allen derzeit bekannten kriminellen Organisationen scheint mir keine das Zeug dazu zu haben.«

»Also, der rote Orden schon mal mit Sicherheit nicht«, bestätigte Colin und streckte die Hand zur Ladentür aus. »Wie du bereits sagtest, nichts als fanatische Chaoten.«

»Mit einer Vorliebe für protzige Schmuckstücke«, fügte Lee an.

Lachend drückte Colin die Ladentür auf. Kaum war er über die Schwelle getreten, preschte plötzlich eine Gestalt von der Seite heran. Sie rammte Colin in vollem Lauf mit der Schulter in den Bauch. Er stolperte keuchend rücklings gegen ein Regal. Aus Reflex hatte Lee einen Arm nach ihm ausgestreckt, ihn aber nicht mehr zu fassen bekommen. Zu spät registrierte er das flammend rote Haar, das dicht vor seiner Nase vorbeiwehte.

Was zum …?

Sein Blick traf auf Mary, die Pförtnerin dieser Außenstelle. Die alte Dame mit den Apfelbäckchen strickte gelassen hinter dem Verkaufstresen an einer Socke. Sie deutete mit dem Kinn zum Schaufenster. »Jessica Winter.«

Das war Lee bereits klar gewesen. Er spannte die Muskeln an, um ihr nachzusetzen. Da Colin unter einem Berg Wollknäuel begraben war, lag es nun an ihm, die Trägerin wieder einzufangen.

Lee gelangte mit einem Satz wieder nach draußen und sprintete der Flüchtigen über den Gehweg hinterher. Er merkte schnell, dass er sie locker einholen würde. Vielleicht erledigte sich die Sache aber auch von selbst, denn wenn sie ihren aktuellen Kurs beibehielt, dürfte sie gleich recht unsanft von der getarnten Taranis ausgebremst werden.

Nein, jetzt schlug sie einen Haken. Zu schade.

Er fluchte leise und bog ebenfalls ab. Ihm war nicht klar, wieso sie überhaupt abhauen wollte. Seines Wissens war ihr die Gesamtsituation vom Chief erklärt worden. Darüber hinaus hatte die Agency sie zuvor bei einem Angriff des roten Ordens gerettet. Jetzt rannte Jessica davon, als wären sie hier die Bösen. Was sollte das?

Entweder hatte sie den Ernst ihrer Lage nicht verstanden oder sie wollte ihn nicht wahrhaben. Lee vermutete, dass eher letzteres der Fall war. Wie war das vorhin noch mit den Vorurteilen? Tja, der störrische Ersteindruck war hiermit ja wohl bestätigt.

Sie rannte am Rand des Vorplatzes entlang zu einem Weg, der nach ein paar Treppenstufen in die Düsternis zwischen zwei Gebäuden führte. Eine Sackgasse, wie Lee vorhin bei der Landung gesehen hatte. Was Jessica offenkundig nicht wusste, da sie mit einem waghalsigen Sprung über die Stufen hinwegsetzte. Sie kam wenig elegant auf und konnte nur durch einige Ausfallschritte mit rudernden Armen einen üblen Sturz verhindern.

»Bleib stehen!«, rief Lee.

Das hätte er sich sparen können. Sie blieb natürlich nicht stehen und stolperte weiter, bis sie hinter einer Ecke verschwand. Lee wurde ein wenig langsamer, denn nun saß Jessica Winter in der Falle. Kurz darauf hörte er das metallische Klirren des Drahtzauns. Sie schien daran zu rütteln. Oder …

Als Lee um die Ecke gebogen war, rollte er hingebungsvoll mit den Augen. Unter anderen Umständen hätte er ihre Hartnäckigkeit vielleicht sogar bewundert, denn Jessica hatte mitnichten vor, sich von der Sackgasse ausbremsen zu lassen. Stattdessen versuchte sie tatsächlich über den Zaun zu klettern. Mit einer Kraft, die er ihr gar nicht zugetraut hätte, zog sie sich an den dünnen Maschen nach oben. Und das in einer Geschwindigkeit, dass Lee nun doch wieder beschleunigte, denn sie schien ihm glatt entwischen zu können.

Er packte ihr Bein und zog mit einem Ruck daran. Wie beabsichtigt verlor sie daraufhin den Halt. Lee fing sie auf und wollte sie eigentlich gleich vor sich abstellen, aber sie begann noch in der Luft so wild herumzappeln, dass er beinahe mit ihr rückwärts umgekippt wäre.

»Was soll denn der Mist?«, schimpfte er.

»Lass mich in Ruhe!«, keifte sie.

In der Sekunde, in der er sie loslassen wollte, trat sie ihm zum Dank heftig gegens Schienbein. Gleich darauf hieb sie ihm eher dürftig den Ellbogen in den Bauch. Verärgert gab er sie frei. Doch anstatt sofort von ihm abzuweichen, wirbelte sie unerwartet herum und verpasste ihm eine ordentliche Rechte.

Das hatte er jetzt nicht kommen sehen.

Prüfend fasste er sich an die pochende Stelle über seiner Braue. Sie hatte ihm ernsthaft eine kleine Platzwunde beschert.

»Bist du jetzt zufrieden?«, knurrte er wütend und drehte seine blutigen Fingerspitzen zu ihr.

»Nein«, gab sie zurück. »Ich bin erst zufrieden, wenn du dich verzogen hast und mich in Ruhe lässt.«

Jessica stand schweratmend ein paar Schritte vor ihm. Sie hielt einen Ellbogen umklammert, aber in ihrer Miene fehlte jede Spur von Schmerz. Ihr Haar war zerzaust und der übertriebene schwarze Lidschatten verschmiert. Diese Kriegsbemalung in der Düsternis der Hintergasse, gepaart mit ihrem gesenkten Kinn und dem feindseligen Blitzen in ihren Augen, ließen sie fast schon gefährlich aussehen. Er kam nicht umhin sich erneut zu fragen, was um alles in der Welt sich Danu dabei gedacht hatte, diese Wilde zur Trägerin zu machen.

Er schnaubte unwirsch. »Ich werde nicht ohne dich gehen. Ob dir das nun gefällt oder nicht.«

Als er einen winzigen Schritt auf sie zumachte, hob sie umgehend drohend die Fäuste und fauchte: »Wag es ja nicht!«

Sie glaubte doch nicht wirklich, eine Chance gegen ihn zu haben? Hätte er es gewollt, würde sie längst mit gefesselten Handgelenken auf dem Boden liegen. Ihr kampflustiges Getue forderte ihn regelrecht zu einer kleinen Demonstration seiner Überlegenheit heraus. Aber er unterdrückte den Drang. Bei ihrer rabiaten und unkontrollierten Gegenwehr war das Risiko zu groß, dass sie sich verletzen könnte. Und es war ja trotz allem seine Aufgabe, sie unversehrt nach Avalon zu bringen.

Lee entschied sich also für eine schonendere Methode, diese lächerliche Konfrontation zu beenden und Zeit zu sparen.

»Jetzt reicht’s mir mit dem Kindertheater«, murmelte er und fasste an seinem Gürtel nach einem Paralysebann.

Nun blitzte zum ersten Mal Angst in ihren Zügen auf. Wahrscheinlich glaubte sie, er würde gleich eine Waffe auf sie richten. Sie wich zurück und blinzelte verdutzt, als er stattdessen eine kleine grüne Kugel nahm und sie ihr umgehend ins Gesicht warf. Die Bannkugel zerplatzte direkt vor ihrer Nase als grüne Pulverwolke. Nach einem kräftigen Niesen sah sie verdattert zu Lee. Er erwiderte gelassen ihren Blick und konnte nur mit Mühe ein triumphales Grinsen unterdrücken.

»Was zum …?«, brachte sie noch heraus.

Der Rest des Satzes wurde von der Paralyse verschluckt. Lee machte einen Schritt vor und so wie ihre Knie einknickten, fiel sie ihm auch schon direkt in die Arme.

Sie lag halbaufrecht in seiner Armbeuge. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Ihre Augen waren geöffnet, doch ihr Blick ging in die Leere, weil sich ihr Bewusstsein in einen tiefen Dämmerzustand zurückgezogen hatte.

Ohne die aggressive Feindseligkeit von eben wirkten ihre Gesichtszüge nun überraschend zart und sanft. Ihr haftete plötzlich etwas Verletzliches an, das Lee auf eigentümliche Weise berührte.

War er eben zu weit gegangen? Vielleicht hätte er sie nicht bannen sollen. Andererseits hatte es nicht so ausgesehen, als hätte er sie mit Vernunft davon überzeugen können, in den Jet zu steigen.

Ein Windhauch ließ eine Strähne auf ihrer Wange tanzen. Lee wollte sie ihr aus dem Gesicht streichen, zog aber kurz davor die Hand wieder zurück. Das war absolut unangebracht!

Da hörte er mehrere Schritte näher kommen. Lee drapierte einen von Jessicas Armen über seiner Schulter, bevor er unter ihre Knie fasste und sie schwungvoll hochhob. Ihre Stirn lehnte an seiner Halsbeuge. Sie duftete nach Vanille. Der süßliche, unschuldige Geruch wollte nicht so recht zu ihrer rabiaten Persönlichkeit passen.

Lee ging los. Kurz vor der Wegbiegung kam ihm der Rest von Team 8 entgegen. Joe riss die Augen auf und schlug die Hände über seinem kurzgeschorenen Kopf zusammen. »Lee! Du hast sie gebannt? Bist du verrückt geworden?«

»Also ich bin bestimmt nicht der Verrückte hier«, antwortete Lee.

»Das wird dem Chief aber gar nicht gefallen.«

»Tja, er kann sich später gerne von der Bekloppten ohrfeigen lassen. Mir reicht’s für heute.«

Colin entdeckte die Platzwunde an seiner Braue und lachte lauthals auf. »Sie hat dir eine verpasst? Respekt. Die Kleine gefällt mir jetzt schon.«

Joe war ebenfalls sichtlich begeistert, dass er sich von dem Menschenmädchen eine eingefangen hatte. War klar, dass die beiden auf dieser Peinlichkeit mit Freuden herumreiten würden.

Während die zwei noch feixten, trat Samira mit vorwurfsvoller Miene vor. »Musste das wirklich sein?«

Genervt schob Lee sich mit der reglosen Trägerin in den Armen an ihr vorbei. »Sie wollte abhauen. Was hätte ich denn machen sollen? Und überhaupt - wie konnte das eigentlich passieren? Wo wart ihr beide, hm?«

»In der Umkleide«, antwortete Samy. »Wir dachten, sie hätte einigermaßen akzeptiert, was der Chief ihr erklärt hat. Sie war einverstanden, mit nach Avalon zu kommen und hat keine Anzeichen von Fluchtgefahr gezeigt.«

»Da hat euch die liebe Jessica wohl schön verarscht«, brummte Lee.

»Sie hat uns nicht verarscht«, erwiderte Samira forsch. »Sie hat einfach nur Angst und ist überfordert, was ihr auch zusteht. Außerdem will sie Jay genannt werden.«

»Jay? Na, meinetwegen.«

»Ich würde sagen, das Mädel ist mit allen Wassern gewaschen«, kommentierte Joe aus dem Hintergrund. »Immerhin schafft es beileibe nicht jeder, dem großen Captain Aherra einen Cut zu bescheren.«

Nun, da hatte er recht. Mit beiden Aussagen. Unterschätzen durfte man diese Jay sicherlich nicht und Lee bezweifelte, dass sich die Fluchtgefahr hiermit erledigt hatte.

Eines war klar - die Zusammenarbeit mit Jay würde ihm einiges abverlangen, denn das mit allen Wassern gewaschene Mädel dürfte noch für so manchen Ärger sorgen.

Kämpferisch und unberechenbar. Und er war nun dafür verantwortlich, dass ihr nichts passierte.

 

Das konnte ja noch heiter werden …


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Kommentare: 7
  • #1

    buecherhobbit (Freitag, 24 Februar 2023 15:46)

    Wie schön auch mal mehr aus der Perspektive des störrischen Lee zu lesen. Ich freu mich auf die Fortsetzung von Secret Elements

  • #2

    vrabookmice (Samstag, 25 Februar 2023 13:39)

    Jetzt habe ich Lust, die ganze Geschichte auch aus Lees Schicht zu lesen ��

  • #3

    Bücherwurm (Freitag, 03 März 2023 09:42)

    Wahnsinnig toll geschrieben und macht Lust auf mehr!! Generell freue ich mich wahnsinnig auf die kommenden Bücher und habe Teil 5 bereits durch gelesen! Wann geht's weiter?? �

  • #4

    Jette (Montag, 13 März 2023 13:33)

    ohhh wenn du uns nun so anfütterst bitte bitte mehr davon aus Lees Sicht - oder gleich in den Büchern vielleicht zwischendurch einen Part aus seiner Sicht?? es wäre so unglaublich toll...

  • #5

    Bücherdrache (Sonntag, 23 April 2023 23:53)

    Oohhh bitte mehr davon!!! Am besten die ganze Story aus Lees Sicht. �

  • #6

    Sandra (Freitag, 25 August 2023 22:39)

    Liebe Johanna,

    vielen Dank von Herzen für diese wundervollen Geschichten. Secret Elements ist einfach ein Meisterwerk an Phantasie, geistreich und mit so bildhaft dargestellten Worten, dass ich mir den gesamten Inhalt bis ins Detail vorstellen kann. Das wären Bücher, die man Verfilmen sollte. �
    Ich wünsche dir weiterhin tiefe Kreativität, besonders für diese Buchreihe.

    Liebe Grüße
    Sandra

  • #7

    ♥️ (Sonntag, 10 September 2023 00:39)

    Das ist ein so tolles Kapitel, vielen Dank.
    Ich habe mich tatsächlich schon ein paar mal gefragt, was Lee in manchen Situationen denken würde. Zu sagen ich wäre definitiv ein Befürworter eines Buches aus seiner Sicht, wäre eine Untertreibung.
    Allgemein noch mal ein richtig großes Lob für die ganze Reihe und die Geschwindigkeit, in der die Bände aufeinanderfolgen.